Irgendwann vor langer oder auch kurzer Zeit, mitten in den verlorenen Jahren, als Chronologie keinen Sinn ergab, da ging eine auf Reisen. Am Foto hing ein Datum, mein Tagebuch gibt Aufschluss. Ansonsten hätte ich es nicht einordnen können.
Und gleichzeitig bin ich immer noch etwas groggy und benebelt von der Krankheit. Alles scheint unwirklich.
[ … ]
Ich denke immer noch über meine Motive für diesen Urlaub nach.
Wieder etwas erleben, Fernweh, mir selber etwas beweisen, und vor allem, mich noch einmal völlig ausklinken und in eine Nebenwelt absacken dürfen. Ohne Alltagsanforderungen, Sozialleben, nur ich und mein Innerstes und mein Schreib-Block und meine Kamera.
Ich hoffe ja, dass das nicht nur ein Versuch wird, unauffällig zu verschwinden, sondern auch eine Chance, etwas wiederzufinden. Und eine klar abgegrenzte Auszeit, nach der ich dann mein Leben wieder bewältigen kann.
Ich würde gerne wissen, wo ich gerade stehe. Habe ich mein Leben einigermaßen im Griff oder entschwinde ich wieder langsam?
Verlorene Jahre. Die Krankheit ist keine echte Krankheit und doch sehr bedrohlich. Man buche einen Urlaub und überbrückt die Tage davor damit, sich aktiv so viel Schaden zuzufügen, dass man kaum noch aufrecht stehen kann, und nach etwa zehn Metern laufen erst einmal eine Stunde sitzen muss. So war es damals. Und dennoch habe ich lebendige und faszinierende Erinnerungen an diesen Urlaub, aber auch erschreckende.
Nachdem ich meine ersten Melancholie-Anwandlungen im Zug und im Flugzeug überstanden hatte, spazierte ich soweit ganz glücklich durch den warmen, würzig riechenden Sommerabend. Am Flughafen hatte ich mich noch mit Reiseführern eingedeckt, soviel Paradies, das es zu entdecken gab. Mich störte es nicht, dass ich mich zunächst auf dem großen Parkplatzgelände verirrte. Meine Überlegung, doch nun einmal Menschen kennen zu lernen, verwarf ich wieder, als ich einige Bars sah, und verließ den Ort. Ich wanderte also eine gewundene Landstraße entlang, daneben war vertrocknetes Gestrüpp und alles roch so köstlich. Das Wetter war warm, intensiv, aber es lag auch etwas Spannung in der Luft. Es wurde dunkel, und die Autos fuhren schnell. Ich war etwas müde. Und so beschloss ich, mich ins Gebüsch zu verkriechen, und zu schlafen, um diese tolle Gegend am nächsten Tag zu erkunden.
Ich döste nur kurz, dann weckte mich Donnergrummeln und zuckendes Licht auf. Ein starkes Gewitter nahte. Und so rollte ich meinen Schlafsack wieder zusammen und machte mich auf den Weg ins nächste Dorf. Die Autos rasten in hohem Tempo an mir vorbei, der Himmel entwickelte ein bedrohliches, ja gruseliges Eigenleben, und bei jedem Blitzzucken überlegte ich, ob ich zu hoffen wagen sollte, dass einer dieser Autofahrer mich aufsammeln und mitnehmen würde. Nein, ich wagte es nicht. Vor den Autos hatte ich viel mehr Angst als vor dem Unwetter. Plötzlich war ich wieder absolut davon überzeugt, dass Menschen böse sind, und fuhr bei Scheinwerferlicht zitternd zusammen, duckte mich ins Gebüsch. Und so stolperte ich ins nächste Dorf. Noch war das Gewitter nicht ganz da, und so lief ich wahllos im Kreis herum und hoffte, dass es noch später und dunkler wird, nicht dass mich noch ein Mensch sieht. Dann sah ich ein rettendes Bushäuschen. Erst setzte ich mich einfach nur kurz auf die Bank, dann fiel der Himmel herab. Die Blitze wurden zu lebendigen Lichtflammen, die Straße sah aus wie ein reißender Fluss, und es war kalt, so kalt. Ich kauerte mich zusammen und drückte mich in meinen Schlafsack. Anscheinend bin ich auch für kurze Zeit eingenickt.
Irgendwann schlief ich tatsächlich ein.
Schlimmer konnte es ja wohl nicht kommen, und das hatte ich überlebt.
Ich denke, ungefähr nach der Logik ließ meine seelische Anspannung nach.
Wenn auch nicht lange.
Schnell kam meine Menschenparanoia wieder, und sobald es hell wurde, brach ich auf. Ich wollte in einem schönen Naturschutzgebiet den Sonnenaufgang erleben. Nach Sonnenaufgang sah es bei dem Wetter nicht aus, aber wie verzaubert wanderte ich durch den Nebel.
Meine Laune erhielt einen Dämpfer, als ich andere Wanderer sah. Ich wollte sie so gerne ansprechen, und gleichzeitig war genau das ein riesengroßer Panikauslöser. Und der innere Zwiespalt setzte mir so zu, dass ich völlig erschöpft zusammenbrach und mitten im immer stärker werdenden Regen schlief, nur sehr unzulänglich geschützt.
Was bitte habe ich da eigentlich getan? Körperlich noch sehr angeschlagen von der Aktion vorher, habe ich mich völlig wissentlich nicht unerheblichen Strapazen ausgesetzt? Solche Dinge wie Selbstfürsorge schienen mir damals sehr fremd. Und anscheinend störte es mich auch nicht so.
Bestens gelaunt wachte ich wieder auf, machte mich frisch, und wanderte durch die zauberhafte unberührte Gegend. Es gab viel Obst am Wegrand, Feigen, Beeren, und ich naschte mich so durch. Ein bisschen durstig wurde ich, also überlegte ich mir, ein Dorf zu suchen, wo ich Wasser kaufen könnte. Es war etwas kompliziert, denn es gab Berge mit schmalen Pfaden, und es gab große breite Straßen. Zwischen beiden schien keinerlei Verbindung zu sein. Diese einsamen Bergpfade, auf denen man sich verirrt, und bevor man wieder in zivilisierte Gegenden kommt, muss man bedrohlichen Menschen vorbei, die einen verfolgen und einsperren wollen. Das war viele Jahre ein von meinem Hirn bevorzugter Traum. Und wenn es schlimm kam, dann konnte ich mich den ganzen Tag nicht von diesen Träumen befreien und mein Kopf irrte weiter durch abgelegene Gegenden, oder wurde in tödliche Verfolgungsjagden verwickelt, während mein Alltags-Ich zu vergessen schien, wo es eigentlich war und wer es war.
In diesen Gegenden irrte ich also nun real herum. Ich überlegte, ob ich eine Nacht in einem Hotel verbringen könnte, um mich wieder ein bisschen zu erholen. Zunächst bevorratete ich mich aber mit etlichen Litern Wasser, nach der langen Durstzeit so viel, dass ich meinen Rucksack kaum noch tragen konnte.
Das billigste Hotel in meinem Reiseführer nahm nur Männer. Soweit zumindest verstand ich das mit meinen spärlichen Sprachkenntnissen. So setzte ich mich in einen vermüllten Park und studierte weiter die Listen. Schließlich entschied ich mich für einen Ort und schaffte es, an einem fast menschenleeren Bahnhof (es gab einen wohl Drogenabhängigen, der mich um Zigaretten anbettelte) ein Ticket zu kaufen.
Die Zugfahrt war wunderbar, an einer schönen Küste entlang mit großartiger Aussicht. Das Hotel hatte eine tolle heiße Dusche, frische Handtücher, und ich nutzte es lange aus. Ein Dach, eine abschließbare Tür, eine Dusche, das ist auch eine Form von Paradies.
Ich untersuchte meine Besitztümer auf Verzichtbarkeit, viel zu viel schleppte ich mit mir herum.
… to be continued …